Der Mauerbau und die falsche Normalität

Analyse

Vor 60 Jahren hat die DDR eine Mauer gen Westen gezogen. Das Leben hinter der Mauer wurde „normal“. Ein Rückblick auf den 13. August 1961 und das Narrativ von der Normalität in der DDR.

Mauerbau in Berlin, August 1961

Der Mauerfall hat sich in das kollektive Gedächtnis eingeschrieben als das historisch bedeutendste Ereignis der deutschen Geschichte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Unzählige Konferenzen über 1989, Kunstwerke, Bücher aller Genre entstanden und entstehen bis heute um das Ereignis, das den Weg zur deutschen Wiedervereinigung ebnete.

Das steht in einem merkwürdigen Gegensatz zur Erinnerung an den Bau der Berliner Mauer und die Abriegelung der Grenze, deren Umstände und Vorgeschichte so gut wie vergessen scheinen. Während ohnehin Geschichtslehrer*innen in Ost und West damit zu kämpfen haben, das historische Wissen von Schüler*innen über DDR und Wiedervereinigung auf ein Basisniveau zu bringen und allgemein Klage über die geringe Kenntnis junger Menschen über die Ereignisse vor 30 Jahren geführt wird, verschwindet der Tag des Mauerbaus vor 60 Jahren vollends im Dunst der Geschichte des letzten Jahrhunderts. Der 13. August fällt in die Sommerferien der allermeisten Bundesländer, die Schulen scheiden also mit oder ohne Pandemie als Orte aus, an denen das Gedenken an die deutsch-deutsche Trennung Raum haben könnte.

Lösung für das Berlin-Problem

Dabei lohnt sich der Blick auf die Umstände des Mauerbaus, auf geostrategische Bewertungen und gesellschaftspolitische Narrative, die sich im Umfeld entwickelten. Anders als ihr Fall war der Bau der Mauer kein unvorhersehbares Ereignis disruptiver Art. Spätestens als Walter Ulbricht, Chef der herrschenden Einheitspartei und Staatsoberhaupt, am 15. Juni 1961 öffentlich beteuerte, „niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten“, (zit. nach Wolle, 60) lag in der Luft, was kommen würde - die endgültige Trennung Deutschlands in einen kleineren Teilstaat unter sowjetischem Einfluss und einen größeren mit starker Westbindung. Im Juni wurde zwar kein Datum oder Zeitpunkt genannt, aber dass das Regime der anschwellenden Fluchtbewegung aus der DDR nicht länger machtlos zuschauen würde, hatte Ulbricht mit diesem Hinweis - der sich im Umkehrschluss ergab - deutlich gemacht.

Das sogenannte „Berlin-Problem“ war seit der Einrichtung der Besatzungszonen virulent. 1958 heizten Ulbricht und sein sowjetisches Pendant, Chruschtschow, die Eskalationsspirale an und stellten den Westmächten ein Ultimatum: Entweder ganz Berlin wird zu einer „entmilitarisierten Freien Stadt“ (Schroeder, 162), oder die Sowjetunion schließt mit der DDR ein „Separatabkommen“, das Westberlin von der Bundesrepublik vollends abschneiden würde.   

Historiker*innen vermuten, dass es Chruschtschow darum ging, den Westen zu testen - wieweit würden die Westmächte zusammenhalten? - ein Muster, das offenbar auch heute in Moskau noch Anwendung findet. Der deutsche Bundeskanzler hatte alle Mühe, die unter Präsident Eisenhower zu einseitigen Konzessionen gegenüber den Sowjets neigenden Amerikaner zu einem entschlossenen Vorgehen zu bewegen.

Strategie militärischer Risikominimierung

Unter dem im November 1960 neu gewählten US-Präsidenten Kennedy bekräftigten die USA die Freiheitsgarantien für Berlin, die NATO übernahm sie — allerdings nur für den Westteil Berlins. Mit dem Bau der Mauer wurde der Ostteil praktisch sowjetisch annektiert und so gut wie alle relevanten Abkommen zwischen den Siegermächten gebrochen. Während der Regierende Bürgermeister von Berlin, Willi Brandt, verzweifelt dazu aufrief, auf den Bruch internationalen Rechts angemessen zu reagieren, machten die Westmächte eine andere Kalkulation — weiter mit dem Status quo und der Strategie militärischer Risikominimierung. Die endgültige Teilung Deutschlands auf unabsehbare Zeit schien der Preis, um einen Krieg zu vermeiden. Stabilität an der Nahtstelle Europas war das oberste Gebot. Die Freiheits- und Menschenrechte der ostdeutschen Bevölkerung standen bei dieser Kalkulation jedenfalls nicht im Vordergrund.

Flucht in die Freiheit

Willi Brandt hatte noch am Vortag des Mauerbaus Alarm geschlagen. Mitten im heraufziehenden Bundestagswahlkampf, bei dem er erstmals als Kanzlerkandidat antrat, warnte er, dass „die Menschen fliehen, weil ‚sie Angst haben, dass die Maschen des Eisernen Vorhangs zementiert werden. Weil sie fürchten, in einem gigantischen Gefängnis eingeschlossen zu werden’.“ (Merseburger, 394) An diesem Tag hatte West-Berlin 2500 Geflüchtete aus der DDR binnen 24 Stunden aufgenommen.

Immer mehr Menschen verließen das Land wegen der katastrophalen Versorgungslage, die sich weiter zuspitzte. In den Ferienorten an der Ostsee gab es weder Fisch noch Kartoffeln. Die Ernte des Jahres war schlecht, woran nach Einschätzung Walter Ulbrichts die Kirche schuld war. Die Planwirtschaft im Agrarbereich lief gründlich schief, was nach Meinung Chruschtschows auf Sabotage zurückzuführen war. In der Gesamtbevölkerung machte sich der Frust über die zunehmende politische Erstarrung und Repression breit, ganze Jahrgänge von Hochschulabsolvent*innen verließen das Land mit der U- oder S-Bahn, die in Berlin noch immer in die Freiheit fuhr. Obwohl die Gerüchteküche Anfang August 1961 brodelte, war der 13. August ein Schock. Wut, Verbitterung, Zorn - das waren die überwiegenden Reaktionen der Bevölkerung.

Repression und Überwachung, politische Gewalt und bürokratische Willkür

Der Bau der Berliner Mauer wirkte als Eingeständnis eines gründlichen politischen und wirtschaftlichen Scheiterns der kommunistischen Staatsführung.

Dramatische Szenen spielten sich ab in plötzlich getrennten Familien, menschliche Tragödien, die kein Happy End fanden. Der 13. August teilte die Zeit in zwei Epochen - die Zeit „vor“ der Mauer und die Zeit „nach“ der Mauer. Der Terror im Inland schwoll an, die Zahl der politischen Strafurteile vervierfachte sich. Fake News und Desinformationskampagnen rollten durch das Land. Die Freie Deutsche Jugend startete im Auftrag der herrschenden Partei die Aktion „Blitz“, bei der aufgehetzte Jugendliche auf Dächer stiegen und in Häuser eindrangen, um nach Westen ausgerichtete Antennen umzudrehen. Die Maßgabe der Führung war ein Aufruf zur Gewalt gegen Bürger*innen: „Diskutiert mit allen Ehrlichen, beantwortet ihre Fragen! Aber schlagt die Provokateure. … Sorgt dafür, dass sich kein Jugendlicher mehr von den Hetzern und Lügnern des isolierten Westens informieren und beeinflussen lässt!“ (Wolle, 83).

Der Bau der Mauer war das politische Drama, das 17 Millionen Deutsche auf unbestimmte Zeit in „Stubenarrest“ (Wolle) setzte und mehr als 140 Menschen das Leben kostete (Gedenkstätte Berliner Mauer). Er schuf beste Bedingungen für die Gewöhnung der Bevölkerung an umfassende, alltägliche Repression und Überwachung, politische Gewalt und bürokratische Willkür, bekräftige das Fehlen einer unabhängigen Justiz und die Abwesenheit von Grund- und Freiheitsrechten.

Vermeintliche Normalität

Genau das aber versuchte die DDR-Führung nach Kräften zu verschleiern, indem sie das Narrativ von der Normalität in die Welt setzte. Der Chefideologe der DDR-Medien, Karl-Eduard von Schnitzler, verbreitete am Morgen des 13. August, einem Sonntag, betont gelassene Stimmung über das Radio und schilderte auf groteske Weise und in klarer Absicht, die Wahrheit zu verschleiern, eine Idylle am Grenzübergang „Sonnenallee“. Er ging so weit, von einem Volkspolizisten zu berichten, „der derweil vor dem Wachhäuschen den Weg … harkte.“ (Wolle, 80). Andere Kommentatoren taten es ihm nach: „Sie haben sich selbst überzeugt, meine Hörerinnen und Hörer: Das Leben in der Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik geht seinen normalen Gang“ (Wolle, 81). Hier, im „Schutz“ der Mauer dominierten angeblich „Ruhe, Frieden, Sauberkeit, Sicherheit und Normalität“ (Wolle, 77). Außerhalb aber: Spionage, Sabotage, Korruption, Kinderdiebstahl und Verbrechen.

Die überwiegende Zahl der DDR-Bürger*innen richtete sich ein in den engen Spielräumen, die das Regime ließ. Und sie bekamen für das Wohlverhalten genau das — Normalität. Bodenständige Leute, Arbeiter*innen und Angestellte, von einem fürsorglichen Staat beschützt vor den Unruhestiftern, Kriegstreibern und Profitgeiern der westlichen Welt.

Dieses geopolitische Systemnarrativ des Normalen in Abgrenzung zum Abweichenden wurde bis 1989 intensiv gepflegt und es tat seine Wirkung. Die Normalität als Konzept aus dem Repertoire des „gesunden Menschenverstandes“ (Stehr, 130) fiel auf fruchtbaren Boden. Das Leben hinter der Mauer, deren Bau so viel Wut ausgelöst hatte, wurde „normal.“

Der Verlust der Erinnerung an die Zeit

Wenn von der „Mauer in den Köpfen“ gesprochen wird, dann verbirgt sich dahinter auch die lange Wirkung des Narrativs von der Normalität in der DDR. Gesellschaft und Alltag in der DDR repräsentierten für ihre Bürger*innen das Normale; hingegen alles, was nach 1989 an Zumutungen der Freiheit auf die Menschen einwirkte, das Abweichende. Der Verlust der Erinnerung an die Zeit „vor“ der Mauer beförderte die Illusion der Normalität in einer politischen Gesamtsituation, die alles andere als normal war.

Normalitätsdiskurse sind Abgrenzungs- und Ausgrenzungsdiskurse, sie schaffen hohen Konformitätsdruck und gedeihen in geschlossenen Gesellschaften, die abweichendes Verhalten sanktionieren. Genau so funktionierte der Gesellschaftsvertrag, den die Mehrheit der Bürger*innen nach dem Mauerbau mit dem Staat geschlossen hatte. Obwohl die Staats- und Parteiführung sich gern einer revolutionären Rhetorik bediente, stammte das Gerede von der Normalität aus der Rubrik kleinbürgerlicher Ängstlichkeit, trug also eher Züge eines reaktionären Verhaltensschemas, das sich jeglichem Wandel verweigert.

In offenen Gesellschaften gedeihen Normalitätsdiskurse dort, wo Eigenverantwortung und Vielfalt als Anstrengung und Bedrohung wahrgenommen werden und sie verfangen dort, wo aus dem Vergleich zwischen den Systemen noch Kapital geschlagen werden kann. Wer in Deutschland heute dem Land eine politische Normalitätskur verschreiben möchte, befördert gezielt die politische Regression der Bürger*innen. Der Mauerbau ist längst Geschichte. Es wird Zeit, auch das Narrativ der Normalität, das den „Stubenarrest auf unbestimmte Zeit“ verschleiern sollte, ebenso aufzuarbeiten und als politische Verhaltensnorm zu archivieren.


Verwendete Literatur:

Gedenkstätte Berliner Mauer, Bernauer Straße 111, 13355 Berlin

Peter Merseburger, Willy Brandt, 1913-1992, Visionär und Realist, Stuttgart-München, 2002

Klaus Schroeder, Der SED-Staat. Partei, Staat und Gesellschaft 1949-1990, München-Wien, 1998.

Johannes Stehr, Normalität und Abweichung. Soziologische Basics, Johannes Stehr, Springer 2006, S 130-134.

Stefan Wolle, Aufbruch nach Utopia, Alltag und Herrschaft in der DDR 1961 -1971, Berlin 2011.